Auch wenn es etwas paradox erscheinen mag, da sich quantitative Logistik bedeutend um numerische Methoden und Messungen drehen, geben Zahlen unserer Erfahrung nach wenig, und meist verspätete, Auskunft über den aktuellen Erfolg eines Projekts. Praktisch alle Messungen können manipuliert werden, was auf Kosten der Nachhaltigkeit des ausgewählten Ansatzes geht. Daher zielt die quantitative Logistik auf klare Verbesserungen: Wenn die Verbesserungen so subtil sind, dass sie nur über erweiterte Messungen festgestellt können, hat sich das Optimierungsprojekt der Lieferkette wahrscheinlich nicht gelohnt und sollte als gescheitert betrachtet werden. Sind die Verbesserungen hingegen bemerkbar und über die verschiedenen Messungen konsistent erkennbar und hat man das Gefühl, die Lieferkette läuft und reagiert besser denn je, war das Projekt wahrscheinlich erfolgreich.
Metriken können manipuliert werden
Aufgrund der Fähigkeit der Ingenieure, Metriken zu manipulieren, also für Ihr eigenes Interesse, statt für das des Unternehmens zu nutzen, wird ihre Leistung selten auf Grundlage von Metriken beurteilt. Dabei sind Lieferketten besonders komplex und praktisch alle einfachen Metriken können zu Lasten des Unternehmens umgemünzt werden. Man könne denken, es müssten nur alle Schlupflöcher geschlossen werden, doch unserer Erfahrung nach, tauchen immer neue auf.
Eine Geschichte zum Reverse-Engineering von Metriken
Nehmen wir ein fiktives Online-Unternehmen als Beispiel. Das Management beschließt, die Service-Levels zu erhöhen, wodurch diese zu einer Hauptmetrik werden. Somit arbeitet das Lieferkettenteam gezielt mit dieser Metrik und kommt zu einer Lösung, die darin besteht, den Bestand deutlich zu erhöhen, was mit gewaltigen Kosten für das Unternehmen einhergeht.
Folglich ändert das Management die Regeln und definiert Höchstbestände, sodass das Team innerhalb dieses Rahmens agieren muss. Das Team überprüft die Zahlen und erkennt, dass ein Rückgang des Bestands am einfachsten erreicht werden kann, wenn große Mengen an Bestand als „tot“ markiert werden, was zu gewaltigen Aktionen führt. So wird die Bestandshöhe tatsächlich reduziert, gleichzeitig geschieht aber dasselbe mit den Bruttogewinnspannen.
Das Problem bleibt natürlich nicht unbemerkt, sodass die Regeln erneut angepasst werden. So wird eine neue Grenze für den Bestand, der als „tot“ gekennzeichnet werden kann, eingeführt. Doch die Umsetzung dieser neuen Regel erweist sich als kompliziert, da nun das Unternehmen mit viel „alten“ bestand zu kämpfen hat, deren Preise deutliche Nachlässe erfordern werden. Um mit dieser neuen Regel zurechtzukommen, erhöht das Team den Anteil an Lufttransport im Bezug zum Seetransport. Somit wird eine Senkung der Durchlaufzeiten und der Bestandshöhe erreicht, doch gleichzeitig steigen die Betriebskosten rasch an.
Zur Beherrschung der Betriebskosten, die außer Kontrolle geraten, ändert das Management erneut die Regeln und führt eine Obergrenze zum Anteil von Ware, das per Luft transportiert werden darf, ein. Die neue Regel stiftet wieder Chaos an, da eine Reihe Fehlbestände auftritt, die mit Lufttransport verhindert worden wären. Aufgrund der immer eingeschränkteren Bedingungen kann das Team immer weniger Nachlässe von Lieferanten nutzen. Einerseits werden Durchlaufzeiten beim Kauf geringer Mengen reduziert. Andererseits geht dabei auch die Bruttogewinnspanne zurück.
Den Kaufpreis wieder in den Normalzustand zu treiben erweist sich als ein viel schwierigeres Ziel für das Management. Es gibt keine einfache Regel, mit der diese Herausforderung gelöst werden kann, und so werden stattdessen unzähligen Zielpreise für jede Produktunterkategorie eingeführt. Es stellt sich heraus, dass viele der Ziele unrealistisch sind und zu Fehlern führen. Alles in einem ist der Überblick über die Lieferkette immer verschwommener. Wegen des Drucks, der sich von mehreren Seiten aus aufbaut, beginnt das Lieferkettenteam ein unüberschaubares Feature für die Bedarfsplanung zu optimieren: die Liste der Produktsubstitution.
So begreift das Management bald, dass nicht alle Fehlbestände dieselben Auswirkungen hatten, da einige der fehlenden Produkte praktisch perfekt durch andere ersetzt werden konnten. Folglich sind sich alle einig, die Fehlbestände dieser Produkte deutlich bei der Berechnung des allgemeinen Service-Levels abzuziehen. Doch jetzt treibt es das Lieferkettenteam, das unter enormen Druck steht, mit der Liste etwas weiter als ursprünglich geplant, sodass Produkte, mit einer geringeren Ähnlichkeit auch als praktisch perfekter Ersatz eingetragen werden. Die Service-Level Metrik verbessert sich, doch das Unternehmen nicht.
Die Fallstricke des Erfolgs
Metriken können manipuliert werden, wenn Teams schädliche Anreize bekommen, dann werden Metriken mit großer Wahrscheinlichkeit irreführend eingesetzt. Doch die Situation ist nicht so schlecht, wie es scheint. Unsere Erfahrung hat gezeigt, dass, außer in schlecht funktionierenden Unternehmenskulturen, Mitarbeiter nicht dazu tendieren, das Unternehmen in ihrem Bereich zu sabotieren. Ganz im Gegenteil. Wir konnten wiederholt beobachten, dass Mitarbeiter stolz sind, das Richtige zu tun, auch wenn dies bedeutet, Unternehmensrichtlinien etwas zu verschärfen.
Daher sollte man das Team für die Umsetzung der Lieferkettenstrategie ermutigen, eine Reihe aufschlussreicher Metriken zur gesamten Funktionsweise der Lieferkette zu bieten, statt es in seiner Freiheit einzugrenzen. Die Rolle des Managements besteht nicht darin, Regeln auf Grundlage dieser Metriken zu erzwingen, sondern das strategische Denken hinter diesen Metriken in Frage zu stellen. Oft sollte das unmittelbare Ziel gar nicht in der Verbesserung der Werte liegen, sondern in der Verbesserung der Definition der Metriken.
In Wirklichkeit besitzen nicht alle Metriken den gleichen Wert für ein Unternehmen. Es bedarf gewöhnlich erheblicher Anstrengungen, Metriken hervorzubringen, die dem Unternehmen eine sinnvolle Perspektive bieten. Hierfür ist es nicht nur erforderlich, die Unternehmensstrategie gut zu verstehen, sondern auch die grundlegenden Daten, die mit unzähligen numerischen Sonderbarkeiten kommen. Daher sollten Metriken stets als sich entwickelnde Elemente betrachtet werden.
Wir haben erkannt, dass ein guter Indikator für den Erfolg eines Lieferkettenprojekts die Qualität der Metriken ist, die im Laufe des Projekts festgelegt werden. Es ist etwas paradox, doch die Relevanz der Metriken kann mit keiner anderen Metrik zuverlässig beurteilt werden. Einige dieser Elemente können dabei helfen, die Qualität von Metriken zu bewerten:
- Sind sich die verschiedenen Lieferkettenteams darüber einig, dass die Metriken, die Essenz des Betriebs festhalten? Oder darüber, dass die Unternehmensperspektive, die implizit durch diese Metriken in den Vordergrund tritt, weder kurzfristig, noch eingeschränkt ausgerichtet ist.
- Bieten die Metriken tiefgreifende Erkenntnisse, wenn man die Zahlen mit den finanziellen Faktoren abgleicht? Natürlich ist es wünschenswert, alles einfach zu halten, aber ohne dabei den Überblick zu verlieren.
- Werden die Datenartefakte richtig gehandhabt? Gewöhnlich gibt es dutzende subtile Fehler, die während der Datenextraktion aus dem Unternehmenssystem behoben werden müssen. Unserer Erfahrung nach, sollte man Rohdaten, die gut genug zu sein scheinen mit Vorsicht genießen. Dies bedeutet oft, dass die Probleme nicht erkannt wurden.
- Ergeben die Entscheidungen, die aus diesen Metriken entstehen, einen Sinn? Sollte eine Entscheidung, die im Einklang mit den Metriken steht, nicht sehr sinnvoll wirken, ist sie es wahrscheinlich nicht. Das Problem hierfür liegt oft in der eigentlichen Metrik.
In vielerlei Hinsicht ist
die Erstellung guter Metriken ein Wegweiser zum Erfolg. Es sei denn etwas kommt dazwischen, ist die normale Vorgehensweise, einfach stets tiefer zu gehen, denn genau ganz unten wartet der Erfolg. Solange jeder tiefgreifendere Schritt dem Unternehmen etwas Positives bringt, ist nicht unbedingt erforderlich, genau zu wissen, wie tief man noch gehen muss.
Vernünftige Entscheidungen führen zu einer besseren Leistung
Was die Lieferkette betrifft, haben sogar die besten Metriken einen erheblichen Nachteil, sie kommen alle zu spät. Durchlaufzeiten können lang sein und eine Entscheidung kann wochenlang, wenn nicht sogar monatelang, keine sichtbaren Folgen zeigen. Zusätzlich baut die quantitative Logistik besonders auf iterative und stufenweise Verbesserungen, was dies noch mehr erschwert. Doch die Nutzung von Methoden, die nicht stufenweise ausgelegt sind, wäre noch schlechter, wenn auch aus anderen Gründen. Daher können Metriken als einzige Signale verwendet werden, um zu überprüfen, ob das Projekt richtig verläuft.
Vernünftige Entscheidungen sin einfache, jedoch unterbewertete Signale höherer Leistung. Doch, es sei denn Ihr Unternehmen verfügt über eine hervorragende Lieferkette, erstellt das System mit hoher Wahrscheinlichkeit weiterhin „unvernünftige“ Entscheidungen, die von den Lieferkettenteams festgestellt und korrigiert werden. Das Ziel all dieser „Warnungen“ oder ähnlicher Reaktionsmechanismen liegt genau darin, die ständigen Probleme über ständige manuelle Korrekturen zu lindern.
Die quantitative Logistik auf einen Punkt zu bringen, in dem alle automatisch generierten Entscheidungen als vernünftig oder sicher erachtet werden ist eine viel größere Herausforderung, als die meisten Fachkräfte erwarten. Dabei liegt der Schwerpunkt auf den „automatisierten“ Entscheidungen, die also keiner menschlichen Eingriffe bedürfen. Mit „vernünftig“ sind Entscheidungen gemeint, die für Fachkräfte noch immer nach einigen Stunden Überprüfung gut aussehen, was natürlich aufgrund der ungeheuren Menge an ähnlichen Entscheidungen, die täglich anstehen, nicht regelmäßig vorgenommen werden kann.
Unserer Erfahrung nach wirkt es sich auf die Leistung aus, wenn Entscheidungen, die als zuverlässig erachtet werden, in der Produktionsphase getestet werden. So ist der „Vernunfttest“ ein strikter Test für die Entscheidungslogik. Es sei denn, Ihr Unternehmen nutzt gerade etwas Ähnliches zur quantitativen Logistik, würden Ihre Systeme den Test wahrscheinlich nicht annähernd bestehen. Folglich kommen unentdeckte Fehler immer wieder vor, wodurch dem Unternehmen erhebliche Kosten entstehen.
Aus einer Betriebsperspektive muss sich das Lieferkettenteam, sobald die Entscheidungen bezüglich der Lieferkette automatisiert werden, nicht mehr um die aufzehrende Aufgabe kümmern, das eigene System mit endlosen manuellen Einträgen einzuspeisen. Dieser Gewinn an Produktivität kann für Wichtigeres genutzt werden, wie zur Verfeinerung der Lieferkettenstrategie oder zur Beobachtung von Lieferanten und zur Feststellung von Problemen, die von ihnen herrühren. Die Leistungssteigerung, die über die reine quantitative Optimierung der Lieferkette erzielt wird, erhöht sich durch den Gewinn, den die Lieferkettenteams erreichen, die nun auch Zeit finden, Prozesse und Workflows zu optimieren.