Durchlaufzeit

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Von Joannes Vermorel, Oktober 2020

Die Durchlaufzeit ist die Laufzeit zwischen der Einleitung eines Prozesses und dessen Abschluss. In Supply-Chains geht der Kauf, die Umwandlung oder Wartung von Ware gewöhnlich mit Durchlaufzeiten einher, die normalerweise in Tagen gemessen werden. Aus planerischer Sicht sind Durchlaufzeiten von Bedeutung, da sie implizieren, dass die meisten Routineentscheidungen im Voraus getroffen werden müssen, um die beabsichtigte Wirkung zu erzielen, z. B. um die Servicequalität aufrechtzuerhalten. Auch die Notwendigkeit einer Bedarfsprognose ergibt sich aus den Durchlaufzeiten. Denn wie geeignet eine Entscheidung, etwa eine Lagerauffüllung, ist , hängt von unbekannten zukünftigen Ereignissen ab, die sich für die Dauer der Durchlaufzeit auf die Lieferkette auswirken.

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Ursachen und Folgen von Durchlaufzeiten

Die Durchlaufzeiten bestimmen weitgehend die Funktionsweise der Lieferkette und die meisten ihrer finanziellen Elemente, wie z. B. das erforderliche Nettoumlaufvermögen und die Rendite des eingesetzten Kapitals (ROCE). In der Tat bedeuten längere Durchlaufzeiten, dass es länger dauert, einen Lagerzyklus abzuschließen, in dem Materialien oder Produkte gekauft, möglicherweise umgewandelt und wieder verkauft werden.

Längere Durchlaufzeiten binden mechanisch höhere Lagerkapazitäten, auch wenn der Lagerbestand scheinbar gering ist. Bestellt beispielsweise ein Unternehmen in Europa Ware aus Asien, die per Container geliefert wird, ist das Unternehmen ab dem Zeitpunkt der Bestellung an das Ziel gebunden, die Ware zu verkaufen oder zu verbrauchen. In dieser Situation dauert es jedoch in der Regel über 6 Wochen, bis die Lagerbestände in Europa dieses Vorhaben widerspiegeln.

Außerdem erhöhen längere Durchlaufzeiten die Abhängigkeit von Prognosen. Wenn man das obige Beispiel wieder aufgreift, kann das Unternehmen nicht lediglich eine Bestellung auf Grundlage des aktuellen Bedarfs tätigen. Bis die Bestellung ausgeliefert wird, hat sich die Situation weiterentwickelt. Die aktuellen Lagerbestände werden aufgrund des laufenden Verbrauchs niedriger sein und der Bedarf wird sich höchstwahrscheinlich geändert haben, wenn auch nur aufgrund der Saisonalität.

Durchlaufzeiten stellen eine untere Grenze der maximalen Agilität dar, die ein Unternehmen erreichen kann. Als Faustregel gilt: Wenn sich die Marktbedingungen radikal ändern, bleibt das Unternehmen etwa für die Dauer der Durchlaufzeiten an seine bisherigen Entscheidungen gebunden. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, diese Auswirkungen abzumildern, angefangen bei den Vertragsbedingungen mit den Lieferanten. Die zugrundeliegenden Risiken lassen sich jedoch selten beseitigen und werden lediglich innerhalb der Lieferkette verschoben.

In Anbetracht der negativen Auswirkungen längerer Durchlaufzeiten kann man sich fragen, warum sich Unternehmen häufig für (zumindest subjektiv betrachtet) lange Durchlaufzeiten entscheiden. Tatsächlich sprechen mehrere wirtschaftliche Faktoren für längere Durchlaufzeiten.

Die Spezialisierung führt zu längeren Durchlaufzeiten. Einige Länder verfügen über ziemlich einzigartige Industrien (1), die sich lokal nur schwer oder mit hohem Aufwand nachbilden lassen. Solche konzentrierten Industrien entstanden historisch betrachtet vor allem aufgrund von hochwertigen Materialien, die leicht zu transportieren waren. Doch auch wenn Flugzeuge jeden Punkt der Erde in weniger als 24 Stunden erreichen können, erhöhen Zölle und Prozesse die tatsächlichen Durchlaufzeiten erheblich, wenn man Lieferanten aus Übersee berücksichtigt.

Skaleneffekte führen ebenfalls zu längeren Durchlaufzeiten. Durch die Erhöhung der Losgrößen (häufig in Form von Mindestbestellmengen, MOQs) können Hersteller oder Transporteure ihre Kosten senken. Mit größer werdenden Chargenmengen wird aber auch die Anzahl der Chargen geringer und damit seltener – bei ansonsten gleichen Bedingungen, insbesondere bei gleichem Bedarf. Nichtsdestotrotz sind nicht alle Branchen gleichermaßen geeignet Skaleneffekte zu erzielen. Diese tendieren in Abhängigkeit der eingesetzten Technologie zu stagnieren.

Absenkung der hohen Quantile

Während eine Durchlaufzeit durch die Reduzierung ihrer durchschnittlichen Dauer verbessert werden kann, wirkt sich meist nur die Verbesserungen der Extremfälle, also der längsten Fälle, signifikant aus. Die größten Probleme, was die wirtschaftlichen Auswirkungen betrifft, konzentrieren sich bei Supply-Chains in der Regel an den Enden der Verteilungen. Gerade unerwartet hohe Durchlaufzeiten führen zu Fehlbeständen oder Produktionsunterbrechungen und nicht die kleinen Schwankungen.

Eine der einfachsten Möglichkeiten zur Beurteilung dieser Extremfälle besteht in der Verwendung von Quantilen. Wenn beispielsweise für einen Lieferanten eine Durchlaufzeit von 7 Tagen für das 95 %-Quantil angegeben wird, bedeutet dies, dass 95 % der Bestellungen, die an diesen Lieferanten gehen, in weniger als 7 Tagen geliefert werden. Diese „hohen“ Quantile, die sich also den 100 % nähern, können erheblich von der durchschnittlichen Durchlaufzeit abweichen. Derselbe Lieferant könnte im Durchschnitt in 2 Tagen liefern, was weniger als ein Drittel der hohen Quantilschätzung für dieselbe Durchlaufzeit ergibt.

Um diese Probleme mit der Servicequalität zu vermeiden, steigen alle Bestandspuffer innerhalb der Lieferkette, unabhängig von der verwendeten Methode, linear an, und zwar nicht mit dem Durchschnitt der Durchlaufzeit, sondern mit einem hohen Quantil der Durchlaufzeit. In der Tat dienen Bestandspuffer gerade dafür, Schwankungen in der Lieferkette auszugleichen. Die beiden dominierenden Faktoren hinter den unerwarteten Schwankungen, die sich auf die Lieferkette auswirken, sind in der Regel ein schwankender Bedarf und eine schwankende Durchlaufzeit.

Vielfalt von Durchlaufzeiten

Die gesamte Durchlaufzeit von den ursprünglichen Bestellungen bei den Lieferanten bis zur Lieferung beim Kunden lässt sich in der Regel in viele, möglicherweise Dutzende, Zwischenschritte aufteilen. Um entweder den Wert der Durchlaufzeit oder ihre Variabilität zu reduzieren, ist es in der Regel nützlich, diese Gesamtdurchlaufzeit in ihre bedeutende Unterkomponenten aufzuteilen, die sich einfacher analysieren und verbessern lassen.

Zum Beispiel kann ein Großhändler, der Waren aus Übersee vertreibt, auf folgende Durchlaufzeiten stoßen:

  • Eine Bestelldurchlaufzeit, die durch den wöchentlichen Beschaffungsprozess des Großhändlers entsteht.
  • Eine Durchlaufzeit für Bestellmöglichkeiten, die durch die MOQs vom Lieferanten entsteht.
  • Eine Produktionsdurchlaufzeit, die die Lieferanten benötigen, um die Bestellung abzuwickeln.
  • Eine Transportdurchlaufzeit, die die Spedition benötigt.
  • Eine administrative Durchlaufzeit für die Zollabwicklung.
  • Eine Empfangsdurchlaufzeit, zur Inventarisierung und Qualitätskontrolle durch den Großhändler.
  • Eine Auslieferungsdurchlaufzeit, die das Distributionszentrum benötigt, um Kundenbestellungen abzuwickeln.
  • Eine Durchlaufzeit für die letzte Meile, die ein Transporteur für die Lieferung beim Kunden benötigt.

Bei jedem Schritt ist es gewöhnlich sinnvoll, sowohl die durchschnittliche Laufzeit als auch die Varianz der Laufzeit zu senken.

Den Überblick über all diese Vorgänge zu behalten, ist mit einem hohen bürokratischen Aufwand verbunden, der durch moderne IT-Systeme entweder durch Barcodes und/oder RFIDs enorm erleichtert werden kann. Elektronische Aufzeichnungen werden typischerweise in den IT-Systemen des/der beteiligten Unternehmen/s gespeichert. Die Vorteile solcher Systeme gehen weit über die Optimierung der Durchlaufzeiten hinaus, da sie auch die Rückverfolgbarkeit der Waren sicherstellen und bis zu einem gewissen Grad den Bestandsschwund verhindern.

Bis in die späten 1990er Jahre war die Speicherung und Verarbeitung all dieser Aufzeichnungen mit kostspieligen Computerressourcen verbunden. Daher war es nicht immer wirtschaftlich vertretbar jede Aufzeichnung, die durch den physischen Warenfluss innerhalb einer Lieferkette generiert wurden, bis ins kleinste Detail zu erfassen – von der Aufbewahrung ganz zu schweigen. Seit den frühen 2010er Jahren sind die Kosten für die Datenspeicherung und -verarbeitung jedoch so tief gesunken, dass die rohen Rechenressourcen bei physischen Warenströmen kaum noch eine Rolle spielen. Dennoch können IT-Kosten, insbesondere Systemintegrationen, diesen elektronischen Aufzeichnungen im Weg stehen.

Um die Durchlaufzeiten zu verbessern und damit gewöhnlich auch ihre hohen Quantile wie oben beschrieben zu reduzieren, sind Messungen erforderlich. Feinkörnige Messungen der Durchlaufzeit sind bei der Ursachenanalyse sehr nützlich. Da die Vorgänge von einem Schritt zum nächsten deutlich variieren, ist auch die Art der Verbesserungen sehr unterschiedlich.

Bestelldurchlaufzeit

Die Bestelldurchlaufzeit bezieht sich gewöhnlich auf die Zeit, die zwischen der Kundenbestellung und der Lieferung der Ware vergeht. Diese Dauer ist von Bedeutung, weil sie die Durchlaufzeit darstellt, die von der Allgemeinheit, und nicht nur von Supply-Chain-Spezialisten, wahrgenommen wird. In vielen Branchen außer B2C‑E‑Commerce ist die Bestelldurchlaufzeit eng mit der Servicequalität verbunden. Insbesondere sorgen hauptsächlich Fehlbestände in erster Linie für ungewöhnlich lange Bestelldurchlaufzeiten.

Wenn es um die Verbesserung der Bestelldurchlaufzeiten geht, besteht Teil der Herausforderung nicht unbedingt in der Verkürzung der Durchlaufzeiten, sondern darin, die richtige Erwartungshaltung bei den Kunden hinsichtlich des Liefertermins zu wecken. Verschiedene große E‑Commerce‑Unternehmen haben sich für über ein Jahrzehnt scheinbar dafür entschieden, Schätzungen auf Grundlage von Quantilprognosen für die Bestelldurchlaufzeit zu teilen, was sich vermutlich als Obergrenze der Verzögerung auswirkt. Die Verzerrung in der Schätzung der Laufzeit wird absichtlich eingeführt, um die Häufigkeit zu minimieren, mit der Ware nicht rechtzeitig geliefert wird.

Prognose von Durchlaufzeiten

Die richtige Schätzung künftiger Ereignisse stellt einen wesentlichen Bestandteil für die Optimierung von Supply-Chains dar. Ähnlich wie der Bedarf, können und sollten Durchlaufzeiten auch prognostiziert werden. Hierfür können in der Regel die vorhandenen historischen Daten genutzt werden, sofern sie von Bedeutung sind.

Obwohl die Prognose von Durchlaufzeiten in Planungsteams, die sich um den Bedarf kümmern, (noch) kein fester Bestandteil ist, ist anzumerken, dass die meisten der Zyklizitäten, die sich auf den Bedarf auswirken, auch für die Durchlaufzeiten gelten. Zum Beispiel lassen sich bei Durchlaufzeiten gewöhnlich Saisonalität sowie bestimmte Abhängigkeiten an bestimmten Monats- und Wochentagen feststellen. Durchlaufzeiten ändern sich im Laufe der Zeit. Zum Beispiel kann ein Lieferant seine eigenen Prozesse überarbeiten, sodass die Durchlaufzeiten zur Kostensenkung reduziert oder erhöht werden. Auch die Quasi-Saisonalität spielt eine Rolle. Etwa beim chinesischen Neujahrsfest, das regelmäßig für hohe Durchlaufzeiten sorgt, da viele Fabriken in Asien für diese Zeit schließen.

Für Durchlaufzeiten sollten Probabilistische Vorhersagen bevorzugt eingesetzt werden, denn, wie beschrieben, bestimmen gerade die hohen Quantile die wirtschaftlichen Auswirkungen der Durchlaufzeiten. Die Kosten und Probleme konzentrieren sich am Ende der Verteilung. Es sei jedoch gleich darauf hingewiesen, dass Normalverteilungen (Gaußverteilungen) nicht für Durchlaufzeiten verwendet werden sollten. Als Faustregel gilt: Durchlaufzeiten sind niemals normalverteilt. Durch den Einsatz solcher Modelle werden hohe Quantile vollkommen unterschätzt, was wiederum für endlose Serviceproblemen sorgt.

Durchlaufzeiten können besser als multimodale Verteilungen modelliert werden, die das zugrundeliegende physikalische System widerspiegeln. Wird beispielsweise eine Produktionslinie angestoßen, sind die Produktionsdurchlaufzeiten in der Regel sehr gut vorhersehbar, es sei denn, einer der Rohstoffe fehlt. In diesem Fall kann die Produktionsdurchlaufzeit erheblich länger sein. Daher beinhaltet die praktische Modellierung der Wahrscheinlichkeitsverteilung typischerweise eine Mischung aus diskreten und parametrischen Verteilungen.

Die probabilistische Vorhersage der Durchlaufzeit soll für jede innere Phase eine diskrete Zufallsvariable ergeben. Häufig ist es sinnvoll anzunehmen, dass diese inneren Phasen statistisch unabhängig sind (z.B. dass die Verzögerung aufgrund der Zollabfertigung streng unabhängig von der Produktionsverzögerung ist). In diesen Fällen können die Zufallsvariablen kanonisch summiert werden, was technisch betrachtet eine Faltungsoperation über die zugrundeliegenden Verteilungen bedeutet.

Gesteuerte Modalitäten

Während das geeignete Modell für die probabilistische Vorhersage der Durchlaufzeit gewöhnlich multimodal ist, erfordern bestimmte Modalitäten eine spezifische Behandlung, sofern ein gewisses Maß an Kontrolle, im Gegensatz zur passiven Beobachtung, involviert ist. Bietet ein Lieferant z.B. Luft- und Seetransport an, sollten beide Transportarten aus Sicht der Prognosen nicht in einen Topf geworfen werden. Es ist ein gewisses Maß an Kontrolle vorhanden. Jede Lieferart hat ihre eigene Variabilität, weshalb zwei unterschiedliche Prognosen erforderlich sind.

Einfluss des Bedarfs

Da die Produktionskapazitäten begrenzt sind, verlängert sich tendenziell auch die Produktionsdurchlaufzeit, wenn der Bedarf steigt. Diese Verbindung zwischen Bedarf und Durchlaufzeit wirkt sich negativ auf die Servicequalität aus, da sie die Fähigkeit des Unternehmens verringert, einen Bedarfsanstieg durch zusätzliche Beschaffungen oder Fertigungsaufträge abzufedern, gerade wegen der zusätzlichen Durchlaufzeit. Daher kann es wichtig sein, ein gemeinsames Vorhersagemodell sowohl für den Bedarf als auch für die Durchlaufzeit zu haben, da die erforderlichen Bestandspuffer von zwei Faktoren abhängen.

Betrachtet man jedoch Fertigungseinheiten, die über genügend Flexibilität verfügen, um ihre Auftragswarteschlangen (neu) zu organisieren, hängen die beobachteten Durchlaufzeiten stark von der Priorisierung ab, die jedem einzelnen Auftrag zugewiesen wird. Daher sollte die geeignete prädiktive Modellierung der Durchlaufzeit den Aspekt der Warteschlangen berücksichtigen, da die Durchlaufzeiten je nach willkürlicher Priorisierungsentscheidungen dramatisch variieren können. Dieses zusätzliche Maß an Kontrolle kann zur Abfederung eines Bedarfsanstiegs genutzt werden.

Lead demand (Bedarf nach Durchlaufzeit)

Die lead demand stellt die Menge der zu liefernden Artikel über die Dauer der Durchlaufzeit dar. Dieser Wert ist von besonderem Interesse, da zur Vermeidung von Fehlbeständen der Gesamtbestand (Summe aus Lagerbestand und Bestellbestand) jederzeit über der lead demand liegen muss. Sinkt der Gesamtbestand unter die Durchlaufzeit, kommt es garantiert zu einem Fehlbestand.

Unter der Annahme, dass probabilistische Prognosen sowohl für den zukünftigen Bedarf als auch für die zukünftige Durchlaufzeit erstellt werden können, lassen sich Schätzungen auf Grundlage (hoher) Quantile für die lead demand, wie folgendermaßen definiert, berechnen:

$$\text{QLeadDemand}(\tau, y, L) = Q_\tau \left[ \sum_{t=1}^{L_\omega}{ y_\omega(t) } \right]_{{\omega \in \Omega}}$$ Wobei:

  • $0 \leq \tau \leq 1$ das Ziel der Quantilschätzung ist
  • $y$ der Bedarf ist, der im Laufe der Zeit variiert
  • $L$ die Durchlaufzeit ist
  • $Q_\tau[..]$ das Quantil der inneren reellwertigen Funktion ist
  • $\Omega$ die Menge der möglichen Ergebnisse ist
  • $t$ die Zeit ist, wobei 1 der erste zukünftige Zeitraum ist
  • $y_\omega$ der mit dem Ergebnis $\omega$ verbundene Bedarf ist
  • $L_\omega$ die mit dem Ergebnis $\omega$ verbundene Durchlaufzeit ist

Diese Quantilschätzung der lead demand ist von Interesse, wenn ein bestimmter Servicelevel eingehalten werden soll. Geht man von einem einfachen Bestandsmodell mit einer einzigen SKU, einem einzigen Lieferanten und ohne MOQs aus, kann die wiederaufzufüllende Menge zu jedem Zeitpunkt durch folgende Formel definiert werden:

$$\text{ReorderQty}(\tau) = \max\left(0, \text{QLeadDemand}(\tau) -\text{OnHand} -\text{OnOrder}\right)$$ Wobei:

  • $\text{OnHand}$ der Lagerbestand ist
  • $\text{OnOrder}$ der Bestellbestand ist

Diese Formel geht implizit davon aus, dass bei Fehlbeständen keine Nachfrage verloren geht. Dennoch ist diese Annahme in vielen Fällen nicht sinnvoll, z. B. im Einzelhandel, wo Kunden gewöhnlich entweder auf den Kauf verzichten, sich für ein Ersatzprodukt entscheiden oder zur Konkurrenz gehen, statt den Kauf einfach zu verschieben. Um diese Annahme zu umgehen, müssen die Auswirkungen der entgangenen Nachfrage explizit modelliert werden. Dies ist von besonderer Bedeutung, wenn der Bedarf stark saisonabhängig ist, weil die Ware, die nach den saisonalen Höchstwerten verfügbar sind, möglicherweise für einen langen Zeitraum nicht verkauft oder genutzt werden.

Von der Durchlaufzeit gesteuerte Rückkopplungsschleifen

Die Durchlaufzeit kann als Inputfaktor für die Berechnung der Wiederauffüllung betrachtet werden, wie im vorherigen Abschnitt beschrieben. Die Durchlaufzeit selbst hängt jedoch vom Bestell-/Produktionsplan ab. Darüber hinaus soll der Zeitplan das Ziel der erwarteten Skaleneffekte fördern, indem die gewünschte EOQ (Optimale Bestellmenge), MOQ (Mindestbestellmenge) oder die nominale Produktionslosgröße erreicht werden.

Daher stehen Supply-Chain-Fachkräfte häufig vor Rückkopplungsschleifen zwischen einer heute zu treffenden Entscheidung (Wiederauffüllung und Bestellung) und dem Zeitpunkt, zu dem diese Entscheidung in der Zukunft voraussichtlich erneut getroffen werden muss. Einfacher ausgedrückt, hängt die heute zu bestellende Menge vom Datum der nächsten Nachbestellung ab. Eine spätere Nachbestellung bedeutet, dass jetzt eine größere Menge benötigt wird. Gleichzeitigt wirkt sich die aktuelle Nachbestellung auf das Datum der nächsten Nachbestellung aus. Eine größere heutige Nachbestellung bedeutet ein späteres Datum für die nächste Nachbestellung.

Da die explizite Modellierung und numerische Optimierung dieser Rückkopplungsschleife nicht trivial ist, legen Supply-Chain-Fachkräfte häufig einen groben Zeitplan fest (z.B. eine wöchentliche oder monatliche Bestellung), der in etwa mit den Zielmengen übereinstimmt, die für die gewünschte Bestellgröße (d.h. EOQ, MOQ oder Losgröße) erreicht werden sollen. Dieser Plan wird als starrer Zeitplan betrachtet, wobei die Nachbestellmengen je nach Bedarf variieren können. Der Ansatz mit festen Zeitplänen führt jedoch vom Konzept her zu Ineffizienzen, da die Lieferkette nicht alle Freiheitsgrade ausschöpft.

Es können bessere numerische Lösungen entwickelt werden, um diesen Aspekt der Rückkopplung nativ zu berücksichtigen. Die für solche Lösungen eingesetzten Algorithmen, fallen typischerweise unter den Begriff des Reinforcement Learning. Die genaue Beschreibung dieser Algorithmen geht jedoch über das Ziel des vorliegenden Dokuments hinaus.

Branchenspezifische Probleme

Durchlaufzeiten können sehr auseinandergehen und der passende Ansatz hängt von der konkreten Branche ab. Im folgenden Abschnitt gehen wir auf einige Branchen ein, in denen beachtliche und spezifische Herausforderungen in Bezug auf die Durchlaufzeit entstehen.

Haltbarkeit von Frischware

Frischware ist besonders leicht verderblich, weshalb die Produkte eine kurze Haltbarkeit haben. Die Verkürzung der Durchlaufzeit ist hier in der Regel entscheidend, um den Marktwert der auszustellenden Produkte so weit wie möglich zu erhalten. Bei der Abwägung von Optionen (Verpackung, Transport), die sich auf die Durchlaufzeiten auswirken, beeinflussen diese Optionen also nicht nur die Qualität der Dienstleistung, sondern häufig auch den erwarteten Umsatz und den erwarteten Abfall, der in der gesamten Lieferkette erzeugt wird.

Außerdem stehen Marken oder Distributoren gewöhnlich mehreren Beschaffungsoptionen zur Verfügung, die unterschiedliche Vor- und Nachteile, was Durchlaufzeit und Haltbarkeit betrifft, bieten. So kann ein Unternehmen beispielsweise direkt beim Hersteller kaufen, was eine lange Durchlaufzeit mit sich bringt, aber bei Erhalt der Produkte eine hohe Haltbarkeit bietet. Alternativ kann bei einem Großhändler eingekauft werden, was eine kurze Durchlaufzeit bietet, gleichzeitig aber mit einer kurzen Haltbarkeit der Produkte bei Erhalt einhergeht. In diesen Fällen muss eine ordnungsgemäße Optimierung der Lieferkette die beiden Optionen gegeneinander abwägen. Dies erfordert wiederum eine Vorhersageanalyse der jeweiligen Durchlaufzeiten und Haltbarkeiten.

Umdrehzeit (turnaround time, TAT) für MROs

MROs (Wartung, Reparatur und Betrieb) kümmern sich um reparierbare Komponenten. Für jeden Komponentenwechsel muss eine einsatzfähige Komponente verfügbar sein, bis die ausgebaute Komponente nach der Reparatur wieder einsatzfähig ist. Als Durchlaufzeit wird die Gesamtlaufzeit ab Erhalt des Auftrags für den Wechsel der Komponente bis zur erneuten Verfügbarkeit des einsatzfähigen Gerätes bezeichnet.

Der Bestand an Komponenten, den die MRO bereithält, hängt direkt von der TAT ab. Wäre die MRO nämlich (theoretisch) in der Lage, eine nicht einsatzfähige Komponente sofort zu reparieren, gäbe es keinen Bedarf an Lagerbeständen. Daher ist die Prognose und Optimierung der Durchlaufzeit für MROs tendenziell noch kritischer als die Bedarfsprognose.

Der Fokus der TAT-Analyse wird (im Gegensatz zur Bedarfsanalyse) typischerweise von der Art der ungeplanten Reparaturen verstärkt. Diese sind genau auf Ausfälle zurückzuführen, bei denen sich ein gewisses Grad an Unsicherheit in puncto Durchführung der zugrunde liegenden physikalischen Prozesse nicht vermeiden lässt. Wenn die Möglichkeit bestünde, das Problem proaktiv anzugehen, würden diese Vorgänge durch Diagnosen zu geplanten Reparaturen werden.

Reverse Logistik für E‑Commerce

In den meisten Ländern bietet ein Großteil der E‑Commerce‑Unternehmen heutzutage die Möglichkeit, Ware zurückzugeben, wenn sie dem Verbraucher nicht gefällt. Die Rückgabequoten vonseiten der Kunden sind jedoch von Land zu Land, meist aus kulturellen Gründen, sehr unterschiedlich. Im E‑Commerce‑Bereich für Fast‑Fashion weisen beispielsweise deutsche Konsumenten typischerweise Rückgabequoten von über 50 % auf. Diese hohen Quoten sind zum Teil auf die Gewohnheit zurückzuführen, mehrere Größen zu bestellen und alle Größen bis auf eine zurückzuschicken.

Bei hohen Rückgabequoten muss der Online‑Händler vorhersehen, dass ein beträchtlicher Teil des Bestands zurückgesandt wird. Wird dies nicht berücksichtigt, besteht die Gefahr, dass der Händler systematisch mit Überbeständen endet, da die Artikel zurückkommen, nachdem die Nachbestellungen durch sind. In Bezug auf die zukünftigen Retouren stellen sich jedoch drei Fragen: erstens, ob die Artikel zurückgesandt werden oder nicht; zweitens, ob die Artikel nach Erhalt die Qualitätskontrolle bestehen und drittens, wie viel Zeit vergeht, bis die Artikel wieder verkauft werden können.

Diese Prognoseprobleme sind für eine hochspezifische strukturierte Analyse ziemlich gut geeignet. So wird die maximale Anzahl von Artikeln, die zu einem beliebigen Zeitpunkt zurückgegeben werden kann, durch das Volumen der letzten Sendungen begrenzt. Die Begrenzung von sogenannten „Tail-Events“ (Ereignisse an den Enden der Verteilungen) ist vor allem aus Sicht der Lieferkette von Interesse. Auch bei Situationen, in denen 3 Größen ausgewählt und 2 Größen zurückgegeben werden, lässt sich der Anteil der Kundenbestellungen, die zurückgeschickt werden, mit ziemlicher Sicherheit im Voraus berechnen.

Leasingunternehmen

Leasingunternehmen, wie z. B. Auto- oder Büromöbel-Leasingfirmen, stehen vor Situationen mit gewissen Parallelen zu den MRO. In der Tat hängt die richtige Höhe des Lagerbestands von dem zukünftigen Bedarf ab, aber auch von den zukünftigen Bindungsraten, da der Bestand am Ende des Leasingvertrags an das Leasingunternehmen zurückfließt. Da die Leasingfirma keine volle Kontrolle über die Leasingdauer hat, müssen diese Laufzeiten prognostiziert werden, um den Bestand zu optimieren. Die Dauer der Bindung und deren Auswirkung auf den Bestand kann mit dem Ansatz für reguläre Durchlaufzeiten analysiert und prognostiziert werden.

Die meisten Leasingunternehmen haben jedoch über ihre Preisgestaltung und Sonderangebote, die sie ihren Kunden bieten können, eine gewisse Kontrolle über die Bindungsdauer. Ähnlich wie ein Einzelhändler, der die Nachfrage nach einem Produkt über eine Aktion ankurbeln kann, kann ein Leasingunternehmen die Bindungsdauer erhöhen, indem es günstigere Konditionen anbietet. So ist bei Leasingfirmen die Preisanalyse in hohem Maße mit der Analyse der Durchlaufzeit verbunden.

Antipatterns bei Durchlaufzeiten

Der Begriff „Antipatterns“ bezieht sich auf Praktiken, Prozesse oder Tools, die als Lösung gedacht sind, aber nicht die erwarteten Ergebnisse liefern. In Lieferketten sind Durchlaufzeiten für eine Reihe von Antipatterns anfällig, die wir in diesem Abschnitt ansprechen.

Mangelnden Wertung

Durchlaufzeiten sind einer der Hauptgründe, weshalb Planung und Prognose aus Sicht des Supply‑Chain‑Managements überhaupt von Bedeutung sind. Dennoch wird Durchlaufzeiten – als ein zu modellierendes und zu gestaltendes Phänomen – in der Regel nur ein winziger Bruchteil der Aufmerksamkeit im Vergleich zu anderen Phänomenen, wie z.B. dem Bedarf, geschenkt. Es gibt mehrere Einrichtungen, die sich mit der Bedarfsprognose beschäftigen, aber keine, die sich mit der Prognose der Durchlaufzeit beschäftigt. Dieses große Ungleichgewicht der Bemühungen führt häufig dazu, dass quantitative Analysen bedarfsseitig bis ins kleinste Detail durchgeführt werden, um sie später grob für Durchlaufzeiten aufzurunden. Für die meisten Branchen sollten Durchlaufzeiten erstrangig auf gleicher Ebene mit dem Bedarf in der Supply‑Chain‑Optimierung berücksichtigt werden, sowohl was den Prozess als auch die Tools betrifft.

Übermäßige Nutzung

In den meisten Supply-Chains liegt ein Großteil des Bestands – einschließlich Rohstoffe und Halbfertigware – die meiste Zeit an einem Ort und wartet auf den nächsten Einsatz. An jedem Schritt der Lieferkette entstehen in der Regel Warteschlangen mit ihren eigenen Wartezeiten. Je mehr sich die Nutzung jegliches Guts den 100 % nähert, umso mehr tendiert die Wartezeit in der Warteschlange ins Unendliche. Die Nutzung der Güter stellt also einen Kompromiss zwischen der Abschreibung der Güter und den damit verbundenen Durchlaufzeiten dar. Dieser Kompromiss besteht darin, die abnehmenden Erträge der höheren Nutzungsraten gegen die exponentiell wachsenden Wartezeiten abzuwägen.

Blindflug

Die Verbesserung der Durchlaufzeit beginnt in der Regel mit der Erkennung des korrekten Teils des Prozesses, der die größte vermeidbare Laufzeit verursacht. Messungen der Durchlaufzeiten selbst können jedoch irreführend sein. So kann z. B. die Messung der Durchlaufzeit eines Lieferanten künstlich in die Höhe schnellen, wenn die angelieferten Paletten häufig unbearbeitet auf einem Dock stehen, bis der Empfang elektronisch aufgezeichnet wird. Der eigentliche fehlerhafte Prozess wäre jedoch der Empfang selbst. Diese Probleme können in der Regel nicht durch eine Datenanalyse behoben werden. Vielmehr ist eine Beobachtungen vor Ort erforderlich, um zu verstehen, ob der Prozess der Datenerfassung verlässlich ist. Außerdem kann allein die Aufzeichnung elektronischer „Höchstwerte“, da sie eine zusätzliche Arbeitsbelastung für die Mitarbeiter darstellt, die Gesamtdurchlaufzeit erhöhen, was dem ursprünglichen Ziel widerspricht.

Auftauchend von LIFO

Bestellungen oder Aufträge nach dem FIFO-Prinzip (first in, first out) zu verarbeiten ist fast immer eine Voraussetzung, um eine angemessene Servicequalität zu gewährleisten. In der Tat führen Verletzungen des FIFO-Prinzips irrtümlicherweise zu übermäßig langen Durchlaufzeiten. Physikalisch betrachtet kommt es jedoch auf natürliche Weise zu LIFO-Fällen (last in, first out), die zielgerichtet verhindert werden müssen. Beispielsweise:

  • Jeder eingehende Arbeitsauftrag (Kommissionierung, Produktion, Reparatur, etc.) wird automatisch als „Akkordblatt“ gedruckt. Alle eingehenden Akkordblätter liegen gedruckt in einer Box. Aufgrund der Beschaffenheit des Druckprozesses liegen jedoch die zuletzt eingegangenen Aufträge auf dem Stapel ganz oben, was die Operateure in Richtung LIFO lenkt.
  • Wenn ein Förderband zu kurz ist, neigt die Ware dazu, das Förderband zu überfüllen und kann am Anfang des Förderbands auf den Boden fallen. Schnell bildet sich ein Haufen von Waren. Dabei befindet sich die Ware, die am längsten im Umlauf ist, zufällig am unteren Ende des Stapels. Das Abstapeln der Waren folgt der LIFO-Reihenfolge.
  • Wenn Kisten oder Paletten auf einer Rampe durch eine Reihe von Transportern entladen werden, wird die frisch eingetroffene Ware tendenziell vor die zuvor angetroffene Ware oder auf diese gestellt. Dies führt zu einer LIFO-Reihenfolge, wenn die Ware verarbeitet wird – sofern die Rampe nicht nach jedem Entladevorgang geleert wird.



    ===Hinweise===

    (1) 2020 gibt es aktuell nur drei Länder, die RAM (Random Access Memory), eine grundlegende Hardwarekomponente moderner Computer, herstellen. Außerdem gibt es drei Länder, auf die fast 90 % der weltweiten Reserven und der Produktion von Lithium, einem wesentlichen Element moderner Batterien, entfallen.