Resilienz (Supply-Chain)

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Von Joannes Vermorel, Januar2023

Aus der Perspektive der Supply-Chain ist Resilienz die Fähigkeit eines Unternehmens, negative ungeplante systemische Ereignisse (oder Schocks), die den kommerziellen Fluss physischer Güter gefährden, abzufedern. Schocks können auftreten, wenn ein Unternehmen (aufgrund eines negativen Ereignisses im Bereich Angebot) nicht mehr in der Lage ist, Ware zu liefern, oder wenn es die Kunden für die Waren verliert (aufgrund eines negativen Ereignisses im Bereich Nachfrage). Die Resilienz oder Widerstandsfähigkeit kennzeichnet sich auch durch die Fähigkeit eines Unternehmens, nach dem Schock wieder in den vorherigen Zustand zurückzukehren. Insgesamt ist Resilienz eine wünschenswerte Eigenschaften für das Überleben eines Unternehmens, auch wenn sie bei fehlenden Schocks einen Wettbewerbsnachteil darstellt, da sie mit verschiedenen Kosten einhergeht.

Modernes Frachtschiff mit Containern



Geschichte

Der Begriff Resilienz wurde vor etwa zwei Jahrhunderten aus der Perspektive der Stärke von Materialien eingeführt. In „The Concept of Resilience“ [1] fasst Alastair McAslan den Ursprung des Konzepts zusammen:

Der Begriff Resilienz wurde im frühen 17. Jahrhundert in die englische Sprache eingeführt und leitet sich von dem lateinischen Verb resilire ab, was soviel wie ausfedern oder abprallen bedeutet (Concise Oxford Dictionary, Tenth Edition). Es gibt keine Belege dafür, dass Resilienz in wissenschaftlichen Arbeiten verwendet wurde, bis Tredgold (1818) den Begriff einführte, um eine Eigenschaft von Holz zu beschreiben und zu erklären, warum manche Holzarten plötzliche und starke Belastungen aufnehmen konnten, ohne zu brechen.

Das Verständnis des Begriffs „Resilienz“ drehte sich hauptsächlich um die „Stärke von Materialien“, bis er in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine neue Verwendung fand, um sich auf abstrakte Eigenschaften im Zusammenhang mit Systemen, wie Organismen, Ökosystemen, Gemeinschaften, Organisationen usw., zu beziehen.

Wie aus den Google Trends Daten für Suchanfragen nach „Resilienz“ hervorgeht, hat der Begriff seit Anfang der 2000er Jahre erheblich an Popularität gewonnen (s. Abbildung 1).

Google Trend Daten für Resilienz

Abbildung 1 Google Trends-Daten für „Resilienz“, abgerufen im Dezember 2022.


Die großflächigen Lockdowns, in den 2020er Jahren zahlreiche Lieferketten unterbrachen (und sich auf manche Länder weiterhin auswirken), führten zu einem bescheidenen Anstieg des allgemeinen Interesses an dem Begriff, was aber nichts an seinem stetigen Aufstieg änderte.

Betrachtet man die Nutzung des Begriffs konkreter im Bereich der Lieferkette, trifft man in den frühen 2000er Jahren auf eine Reihe von Anbietern, die für resiliente Supply-Chain-Lösungen warben. Dabei definierten sie Resilienz implizit durch die Brille ihrer eigenen Lösungen neu. In dieser Hinsicht lässt sich anhand des Begriffs der Resilienz die gängige (und zweifelhafte) Tendenz von Anbietern veranschaulichen, bestehende Produkte und Dienstleistungen alle paar Jahre unter einem neuen Schlagwort zu vertreiben.

Ein erster Überblick über die Resilienz der Supply-Chain

Der Begriff 'resilient' muss im Bezug zur Supply-Chain eng und präzise genug gefasst werden. Andernfalls wird er zu einem Synonym für eine 'überlegene' Lieferkette. Umgekehrt ist eine zu breitgefasste Definition über eine kurze Liste von Beispielen negativer Ereignisse (z. B. Lockdowns) nicht ausreichend, um das Interesse einer Supply-Chain-Fachkraft für dieses Konzept zu wecken.

Wir schlagen folgende Definition von Resilienz vor: die Fähigkeit des Unternehmens und seiner Supply-Chain, negative, ungeplante systemische Ereignisse – im Folgenden Schocks abzufedern. Diese Definition schließt absichtlich ganze Klassen negativer Ereignisse aus.

So ist beispielsweise ein Fehlbestand kein Schock. Es ist ein negatives, ungeplantes Ereignis, hat jedoch keine 'systemische' Komponente. Ein Fehlbestand ist ein lokales Problem, wenn auch nicht im geografischen Sinne, zumindest aus der Perspektive des Angebots oder der Vermarktung. Die Inflation wäre ein weiteres Beispiel für ein Ereignis, das ebenfalls kein Schock ist. Es handelt sich um ein negatives systemisches Ereignis, das sich auf das Unternehmen, seine Kunden und seine Lieferanten auswirkt, es ist jedoch ein weitgehend geplantes Ereignis: Inflation ist das Ergebnis einer Erhöhung des Geldangebots, worüber die Zentralbanken nicht schweigen.

Das Überraschungselement liegt also im Auge des Betrachters. Ein Mann, der sich mit den Händen die Augen zu hält und dabei gegen einen Baum stößt, kann diesen zwar verfluchen, weil er ein „ungeplantes“ Ereignis auf seinen Weg darstellt. Dennoch handelt es sich um das Ergebnis einer bewussten menschlichen Handlung (er hat sich entschieden, seine Augen zu bedecken und die Möglichkeit eines Schocks in Kauf genommen). Aus Sicht der Lieferkette sollten sich Schocks nur auf solche Ereignisse beziehen, die nicht vorhersehbar sind, zumindest nicht unter Betrachtung der breit zugänglichen Methoden und Technologien.

Auch der systemische Charakter eines Schocks hängt von der jeweiligen Organisation ab. Ein Beispiel: Ein Ladenbesitzer, der seinen einzigen Standort aufgrund eines Brands verliert, betrachtet dieses Ereignis zu Recht als einen Schock für sein Einzelhandelsgeschäft. Im Gegensatz dazu könnte eine große Einzelhandelskette das gleiche Ereignis als geringfügiges Hindernis in Bezug auf die Ziele für das kommende Quartal betrachtet. Daher gilt ein Ereignis als systemisch, wenn es einen beträchtlichen (und signifikanten) Teil eines Systems, hier einer Supply-Chain, sofort beeinträchtigt.

Was Schocks betrifft, so gibt es aus Sicht der Lieferkette zwei große Kategorien: "Angebotsschocks" und "Nachfrageschocks".

Angebotsschocks gefährden die anhaltende Fähigkeit, physische Ware zu liefern. Solche Schocks können sowohl durch externe als auch durch interne Kräfte ausgelöst werden. Im ersten Fall können Naturkatastrophen (z. B. eine Überschwemmung) oder von Menschen verursachte Katastrophen (z. B. ein Krieg) den Warenfluss eines Unternehmens ernsthaft beeinträchtigen. Im zweiten Fall kann ein Streik im Unternehmen oder ein Zusammenbruch der IT einen schwerwiegenden Schock verursachen.

Nachfrageschocks gefährden das anhaltende Interesse des Marktes an der vom Unternehmen angebotenen Ware. Diese Schocks werden in der Regel durch einen schweren Imageverlust des Unternehmens aufgrund eines Unfalls (z. B. Flugzeugabsturz bei einer Fluggesellschaft) oder eines Skandals (z. B. Unternehmensbetrug) ausgelöst.

Resilienz bezieht sich somit nicht nur auf die Fähigkeit eines Unternehmens, die unmittelbaren negativen Folgen eines Schocks abzufedern, sondern auch auf seine Fähigkeit, zum vorherigen Zustand zurückzukehren. Resilienz ist per Definition eine relativ wünschenswerte Eigenschaft für ein Unternehmen, die seine Überlebenschancen in turbulenten Zeiten erhöht. In der Praxis hat Resilienz jedoch ihren Preis, da sich das Unternehmen schließlich auf manche Schockarten vorbereitet, die eintreten können oder auch nicht.

Der Weg zur Resilienz

Es gibt zwei hauptsächliche Arten, eine Supply-Chain resilienter zu gestalten. Erstens, ungeplante Ereignisse in geplante Ereignisse umzuwandeln. Zweitens, systemischer Ereignisse in lokale Ereignisse umzuwandeln. Beide Wege werden im Detail besprochen, aber seien Sie vorgewarnt: alles hat seine Vor- und Nachteile. Resilienz wird, wie die meisten wünschenswerten Eigenschaften für eine Organisation, durch einen Kompromiss erreicht. Darüber hinaus gibt es zahlreiche schlechte Prozesse und Technologien, die unbeabsichtigte Schwachstellen in eine Supply-Chain einführen. Resilienz ist jedoch in der Regel nicht für diese Art von Problemen geeignet, da sie sich auch ohne Schocks negativ auf die Supply-Chain auswirken. Negatives Know-How [3] bietet eine geeignetere Perspektive für den Umgang mit solchen unbeabsichtigten Schwachstellen.

Von ungeplant zu geplant

Die Idee, ungeplante Ereignisse in geplante zu verwandeln, ist alles andere als neu. Es stützt sich auf das uralte Prinzip, auf das Beste zu hoffen und sich auf das Schlimmste vorzubereiten. Aus der Perspektive der Lieferkette können die meisten aufkommenden Schwankungen (schwankende Nachfrage, schwankende Durchlaufzeiten, schwankende Preise) zwar vorhergesehen werden, jedoch nicht genau, insbesondere wenn es sich um plötzliche azyklische Schwankungen handelt [a].

Die probabilistische Vorhersage nimmt die Perspektive der Prognose mit einem anderen Ziel ein: Anstatt zu versuchen, die Unsicherheit zu beseitigen, lautet das Ziel, die Unsicherheit zu modellieren und zu quantifizieren. Probabilistische Prognosen ebnen den Weg für Techniken der stochastischen Optimierung[b] , die zur Berechnung risikoangepasster Entscheidungen verwendet werden. Risikoangepasste Entscheidungen machen die Supply-Chain resilienter, weil diese Entscheidungen die schlimmsten Folgen für das Unternehmen fernhalten. In der Praxis muss für die Berechnung risikoangepasster Entscheidungen die Supply-Chain aus einer finanziellen Perspektive betrachtet werden. Dadurch wird die Verlustfunktion für die stochastische Optimierung definiert.

Risikoangepasste Entscheidungen sind in der Regel konservativer und damit weniger effizient als Entscheidungen, bei denen das Risiko einfach gänzlich ignoriert wird. Ein risikoangepasster Auftrag zur Lagerauffüllung kann beispielsweise von einem Nachlass, der mit einer großen Mindestbestellmenge (MOQ) verbunden ist, absehen, weil eine geringe Wahrscheinlichkeit besteht, dass die Nachfrage einbricht und das Unternehmen eine große Bestandsabschreibung vornehmen muss. Der Preis, den man zahlt, um die Auswirkungen eines Nachfrageschocks abzufedern, ist, dass die MOQ nicht erreicht wird.

Risikoangepasste Entscheidungen weisen den Weg zu einer größeren Resilienz in der Lieferkette, wobei der Wandel weitgehend reversibel bleibt. In der Praxis läuft es darauf hinaus, bei allen alltäglichen Entscheidungen „Nudging“ (im Sinne der Verhaltensökonomie) anzuwenden, wodurch weder das Unternehmen noch seine Lieferkette grundlegend verändert werden.

Wenn das Unternehmen bereit ist, strukturelle Veränderungen in Erwägung zu ziehen, kann es resilienter werden, indem es absichtlich zahlreiche Vermögenswerte der Supply-Chain versatiler als – zumindest unter normalen Umständen – erforderlich. Ein Beispiel:

  • Einige französische Unternehmen arbeiten ihre Fachangestellten so ein, dass sie im Falle eines Streiks bei den Mitarbeitern in einfacheren Positionen in der Produktion aushelfen können [5]. Da sich Streiks unverhältnismäßig stark auf letztere auswirken, kann das Unternehmen einen Streik abfedern, indem bei Abwesenheiten die Tätigkeiten in einem Großteil der Belegschaft vorübergehend umverteilt werden. Sollte es zu einem Streik kommen, verschiebt das Unternehmen wichtige, aber nicht dringende Prozesse in den Fachbereichen (wie Buchhaltung, Marketing, Rechtsabteilung usw.). Resilienz wird hier also auf Kosten einer geringeren Produktivität der Fachangestellten erreicht, da sie für Aufgaben geschult werden müssen, die sie nicht regelmäßig ausführen. Zudem bleiben die oben erwähnten übergeordneten Prozesse für die Dauer des Streiks unerfüllt.

  • Die US-Armee verwendet für fast alle ihre Landfahrzeuge, einschließlich Kleinwagen und Motorräder Dieselmotoren, obwohl Dieselmotoren unter Zivilisten eine relative Seltenheit sind. Durch die Verwendung einer einzigen Art von Treibstoff räumt die US-Armee ganze Klassen von logistischen Problemen aus dem Weg. Außerdem besteht dadurch die Möglichkeit, in Notsituationen Kraftstoff von einem beliebigen Fahrzeug für ein anderes zu verwenden. Resilienz geht somit auf Kosten anderer Faktoren zurück, typischerweise eines höheren Preises für die Motoren bei den meisten kleinen Fahrzeugen.

Umstellungen können fast immer als Kompromiss betrachtet werden, bei dem das Unternehmen – und seine Lieferkette – eine geringere Effizienz im Tagesgeschäft in Kauf nimmt, um eine höhere – aber immer noch verminderte – Effizienz bei Schocks zu erreichen.

Von systemisch zu lokal

Die Umwandlung systemischer Ereignisse in lokale Ereignisse erfolgt häufig durch Diversifizierung, vertikale Integration oder Konsolidierung. Was die Nachfrage betrifft, kann die Diversifizierung über die Erweiterung der Produktpalette oder die Erschließung neuer Märkte (z. B. verschiedene Länder) erfolgen. Die Diversifizierungen im Bereich der Nachfrage, die zur Verbesserung der Resilienz beitragen, sind in der Regel solche, die keine Synergieeffekte einführen. Verkauft ein Unternehmen beispielsweise ein ergänzendes Produkt innerhalb eines gleichen Marktsegments, wird es dadurch nicht gegen einen Nachfrageschock, der genau dieses Segment betrifft, resilienter. Die Diversifizierung kann auch in Bezug auf das Angebot erfolgen, indem auf Lieferanten zurückgegriffen wird, deren Fähigkeiten und Angebote sich überlappen. Diese Diversifizierung im Bereich Angebot geht in der Regel auf Kosten von Skaleneffekte und erhöht insgesamt die Komplexität des Betriebs.

Vertikale Integration kann genutzt werden, um nachfrage- und angebotsseitige Schocks aus dem Weg zu räumen. Ein Hersteller kann einen Einzelhändler übernehmen, um sich einen Vertriebskanal zu sichern und so Nachfrageschocks abzufedern, da man den Hersteller nicht aus seinem eigenen Vertriebskanal ausschließen wird. Umgekehrt kann ein Einzelhändler einen Hersteller übernehmen, um seine Belieferung zu sichern und so bestimmte Angebotsschocks abzumildern, etwa eine exklusive Vertriebsvereinbarung des Herstellers mit einem Konkurrenten. Im Laufe der Zeit führt die vertikale Integration zu einer geringeren Wettbewerbsfähigkeit des internen Anbieters im Vergleich zur externen Konkurrenz[c].

Die Konsolidierung, die in der Regel durch M&A (Fusionen und Übernahmen) erfolgt, ist einer der „einfachsten“ Wege zur Resilienz. Durch den Zusammenschluss von Unternehmen, die früher Konkurrenten waren, profitiert das neu entstandene Unternehmen von einem geringeren Wettbewerbsdruck, sowohl nachfrage- als auch angebotsseitig. Für Unternehmen stellt der Wettbewerb eine wichtige Schockquelle dar, da die Konkurrenz Preiskämpfe auslösen (Nachfrageschock) und Exklusivverträge mit Lieferanten abschließen können (Angebotsschock). Als Hauptnachteil einer Konsolidierung ist anzuführen, dass sie in der Regel negative Skaleneffekte hervorruft, die das Unternehmen noch anfälliger für marktweite Störungen machen.

Verfolgt man diesen Ansatz bis zum Ende, steht man vor Unternehmen, die als too big to fail bezeichnet werden. Hier wird der Erhalt des Unternehmens zu einer politischen Angelegenheit, indem die Belastung, die das Überleben des Unternehmens mit sich bringt von den ursprünglichen Aktionären auf die Steuerzahler verlagert wird.

Resilienz-Irrsinn

In der Lieferkette hat der Anbieter jeder Lösung eine eigene Agenda [2]. Auch wenn es nichts Neues ist, dass Anbieter bestehende Produkte und Dienstleistungen neu verpacken, um sie an das neueste Modewort oder den neuesten Trend anzupassen, scheinen viele dieser Lösungen seit 2020 auch die übernatürliche Fähigkeit erlangt haben, Lieferketten resilienter zu machen. Deshalb ist es angezeigt, einen ganzen Abschnitt der Enttarnung einiger der zweifelhaftesten Behauptungen zu widmen [d]. Die Reihenfolge ist hier rein zufällig.

Positive ROI ist eine höchst fragwürdige Behauptung, da fast alle Korrekturmaßnahmen, die die Resilienz im Unternehmen steigern auch die Effizienz minder [e]. Nach einem Schock kann spekuliert werden, wie viel schlimmer die Situation ohne proaktive Korrekturmaßnahmen gewesen wäre, direkte Messungen sind jedoch unmöglich.

Transparenz in der Lieferkette und Transparenz in Echtzeit bringen nicht viel, wenn es um Resilienz geht. Schocks sind nicht gerade subtile Phänomene, die sich „einfachen“ Messungen entziehen. Keiner der im ersten Abschnitt aufgeführten Schocks kann durch Transparenz in Bezug auf den Zustand der Supply-Chain gemildert werden. Obwohl Transparenz in der Lieferkette wünschenswert ist – und in der Tat bei zahlreichen Optimierungen der Supply-Chain eine wichtige Rolle spielt – hängt es nicht wirklich mit der Resilienz zusammen.

Workflows erhöhen von Haus aus die Effizienz eines Unternehmens, verringern aber gleichzeitig seine Agilität. In der Tat wird durch einen Workflow das Unternehmen mehr an seine Arbeitsweise und Methoden gebunden, wodurch es resistenter gegenüber Veränderungen wird. Daher ist die Behauptung, dass ein softwaregestützter Workflow die Resilienz erhöht, eine außergewöhnliche Behauptung, die außergewöhnliche Beweise erfordert.

KI-Technologien (künstliche Intelligenz)' sind zumindest 2022 noch deutlich statistisch, zumindest was die Mainstream-Varianten der KI, wie Deep Learning, betrifft. Es ist davon auszugehen, dass es für die meisten systemischen Schocks keine Präzedenzfälle gibt. Deshalb sollten Unternehmen nicht erwarten, solche Schocks in ihren historischen Daten (oder denen des relevanten Marktes) erkennen zu können. Zugegebenermaßen sind statistische Analysen unheimlich wertvoll für Supply-Chains. Die Behauptung, dass sie (in ihrer derzeitigen Form) Schocks vorhersagen und/oder abmildern können, ist jedoch illusorisch bzw. eine grobe Fehldarstellung der KI [f].

Resilienz ist von Natur aus schwer zu verkaufen, da sie voraussichtlich kurz- und mittelfristig die Rentabilität des Unternehmens senkt, dafür die langfristigen Überlebenschancen erhöht. Jede Lösung, die „Resilienz“ als Lösung verspricht, die rein Vorteile bringt, ist (sehr) wahrscheinlich zu schön, um wahr zu sein.

Eine übermäßige Skepsis verzögert zwar die Innovation, eine gesunde Skepsis ist jedoch notwendig, um IT-Katastrophen zu vermeiden, die regelmäßig mit der unklugen Einführung von Technologien und Prozessen verbunden sind, die von Schlagwörtern angetrieben werden.

Jenseits der Resilienz

Das intuitive Gegenteil von 'Resilienz' scheint Zerbrechlichkeit zu sein. Während in einem resilienten Unternehmen die mit einem Schock verbundenen negativen Folgen abgefedert werden, verschärfen sich in einem fragilen Unternehmen diese Folgen und somit auch der Schock. Nassim Taleb schlägt jedoch in seinem Buch „Antifragilität: Eine Anleitung, für die Welt, die wir nicht verstehen“ [4] eine radikale Alternative vor. Nach ihm ist der Unterschied zwischen Fragilität und Resilienz lediglich eine Frage des Grades, da Schocks grundsätzlich schädlich bleiben, unabhängig davon, ob das System als fragil oder resilient eingestuft wird.

So führt Taleb die "Antifragilität" als eine abstrakte Eigenschaft ein zur Charakterisierung von Systemen, die in der Lage sind, sich unter Schocks zu verbessern. Taleb zeigt nicht nur, dass es antifragile Systeme gibt, sondern verteidigt, dass langfristig sowohl fragile als auch resiliente Systeme durch antifragile Systeme ersetzt werden. Fragile Systeme werden schneller ersetzt als belastbare Systeme, letzten Endes werden aber auch resiliente Systeme ersetzt.

Aus Sicht der Supply-Chain sollte ein antifragiles Unternehmen Schocks nicht nur abfedern, sondern sie aktiv nutzen, um seine Konkurrenten zu übertreffen. Es ist jedoch nicht klar, ob ein gewisses Maß an Antifragilität durch die Lieferkette "selbst" erreicht werden kann. Antifragilität spiegelt in Unternehmen in erster Linie eine unternehmerische Risikoeinstellung wider, die sich nicht sinnvoll auf eine einzelne Abteilung – unabhängig von ihrer Größe – wie etwa die Supply-Chain beschränken lässt. Außerdem ist Antifragilität noch schwieriger zu verkaufen als Resilienz, da sie in der Regel kurzfristig dazu führt, mehr Risiken einzugehen – statt nur eine geringere Effizienz in Kauf zu nehmen, wie es bei der Resilienz der Fall ist –, um die Chancen auf ein langfristiges Überleben zu erhöhen.

Lokads Ansatz

Die Mainstream-Perspektive der Supply-Chain [g] – sowohl in der Theorie als auch in der Software – lehnt das Risiko gänzlich ab. Es macht die Lieferkette von Design aus fragil. Alltägliche, größtenteils vorhersehbare und volatile Faktoren (z. B. schwankende Durchlaufzeit, schwankende Rohstoffpreise, Kundenzahlen, Lieferantwechsel usw.) werden nicht einmal berücksichtigt. Die einzige Quelle der Ungewissheit, die einer statistischen Analyse würdig scheint, ist die zukünftige Nachfrage, und selbst die Nachfrage wird mit punktuellen Zeitreihenprognosen angegangen, in denen die Ungewissheit nicht berücksichtigt wird. Statistische Analysen, die sich an Durchschnittswerten orientieren, verkörpern die Einstellung bereite dich auf das Beste vor, ignoriere das Schlimmste. Auch Optimierungsziele, die in Prozentsätzen ausgedrückt werden (z. B. Service-Level, Auftragserfüllungsrate, MAPE), berücksichtigen ebenfalls das Risiko nicht, selbst wenn es sich um ein banales und sich wiederholendes Risiko handelt. Kleinere Unannehmlichkeiten werden mit größeren in einen Topf geworfen. Einfache Prozentzahlen spiegeln jedoch nicht das wahre Ausmaß der Probleme wider, mit denen das Unternehmen konfrontiert ist.

Eine Lieferkette resilienter zu gestalten, ist eine Mammutaufgabe, die jedoch nicht um die Quantifizierung von Risiken und Ungewissheit herum kommt. Das Quantitativen Supply-Chain-Manifesto wurde 2017 von Lokad eingeführt, Jahre bevor Supply-Chain-Resilience zu einem Modewort wurde. Auf technischer Ebene wird die probabilistische Prognose als eine auf Ungewissheit basierende Alternative zu Punktprognosen hervorgehoben. Außerdem werden Wirtschaftstreiber als risikobasierte Alternative zu den in Prozenten ausgedrückten KPIs vorgeschlagen. Da Resilienz eine schwer erreichbare Eigenschaft ist, stellt dieses Manifest einen einfachen Mechanismus vor, um eine tiefgreifende Verbesserung der Supply-Chain zu erreichen: Freisetzung von Kapazitäten im Bereich der 'Management-Bandbreite', [6] da die ständige Beschäftigung der Leitung mit Themen, die gerade brennen, steht einer ernsthaften, transformativen Stärkung der eigenen Supply-Chain entgegen.

Literaturhinweise

1 The Concept of Resilience, Understanding its Origins, Meaning and Utility, Alastair McAslan, März 2010

2 Adversarial market research for enterprise software, Joannes Vermorel, März 2021

3 Negative Knowledge in Supply Chain, Joannes Vermorel, März 2021

4 Antifragilität: Eine Anleitung, für die Welt, die wir nicht verstehen, Nassim Nicholas Taleb, November 2012

5 La RATP attribue une prime annuelle de 1 200 euros à des cadres volontaires pour conduire pendant les grèves, Rodolphe Helderlé, Miroir Social, August 2011

6 Supply chain resilience requires bandwidth, Joannes Vermorel, Dezember 2022

Hinweise

a Die Saisonalität kann zu großen Schwankungen in der Aktivität des Unternehmens führen. Diese Schwankungen können aufgrund ihrer zyklischen Natur genau vorhergesagt werden.

b Stochastische Optimierung bezieht sich auf eine Sammlung von Methoden zur Minimierung oder Maximierung einer Zielfunktion bei Zufälligkeit. Dieses Konzept wird im Gegensatz zur „deterministischen Optimierung“ eingeführt, die davon ausgeht, dass die Verlustfunktion keine Zufälligkeiten enthält.

c Die Automobilindustrie ist ein Paradebeispiel für die Industrie des frühen 20. Jahrhunderts, in denen die Hersteller viele Bereiche vertikal integrierten. Gegen Ende des Jahrhunderts hatte sie jedoch den Großteil ihrer Produktion nach und nach an Lieferanten wieder ausgelagert (da diese Lieferanten sie kostentechnisch massiv übertrafen). In der Luftfahrt und bei der Herstellung von PCs gab es ähnliche Entwicklung.

d Es ist durchaus möglich, dass diese Lösungen aus Gründen wünschenswert sind, die nichts mit Resilienz zu tun haben.

e Resilienz ist zwar wünschenswert, aber kein Ziel für sich. Venture Capitalists (VCs) tendieren beispielsweise in der Regel stark in die entgegengesetzte Richtung: get big or die trying. Mit diesem Ansatz werden Optionen bevorzugt, welche die Effizienz des Unternehmens und damit sein Potenzial, sehr erfolgreich zu werden, auf Kosten seiner Überlebenschancen verbessern.

f Dass menschliche Experten sich mit der Entwicklung eines numerischen Rezepts befassen, um eine Supply-Chain resilienter gegen einen möglichen Schock zu machen, ist ein ziemlich vernünftiger Vorschlag. Ein solches numerisches Rezept als "KI"-Konstrukt zu bezeichnen, ist jedoch ziemlich weit hergeholt und entspricht nicht der Art von Techniken und Algorithmen, die heutzutage gewöhnlich unter den Begriff "KI" fallen.

g Punktprognosen über Zeitreihen, Sicherheitsbestände und ABC-Analysen sind bemerkenswerte Beispiele für das, was man als Mainstream-Perspektive der Suppy-Chain betrachten könnte.