Priorisierte Bestellung (Supply Chain)

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Von Joannès Vermorel, letzte Aktualisierung im Dezember 2015

Die Literatur zu Logistikketten dreht sich gewöhnlich um Bestellpolitiken, bei denen jeder Artikel vollkommen unabhängig von all den anderen Artikeln behandelt wird: Die Entscheidung, mehr Einheiten von Artikel A zu bestellen ist strikt unabhängig von der Entscheidung, mehr Einheiten von Artikel B zu bestellen. Dieser Ansatz stößt aber schnell auf seine eigenen Grenzen. Im Gegensatz hierzu liegen bei der priorisierten Bestellpolitik multi-Artikel Entscheidungen im Mittelpunkt, so konkurriert jeder Artikel mit den anderen um Kapitalallokation. In der Praxis bieten priorisierte Bestellungen eine viel genauere Kontrolle über die Bestandsleistung. Bei entsprechender Prognosetechnologie ermöglicht die priorisierte Bestellung, höhere Bestandsleistungen zu erreichen. Lokad empfiehlt systematisch, wenn möglich, eine priorisierte Bestellpolitik zu etablieren.

Die vier klassischen Bestandspolitiken

Eine herkömmliche Bestandspolitik versucht folgende Fragen zu beantworten: Wann sollte ein Nachschubauftrag erteilt werden? und Welchen Umfang sollte der Nachschubauftrag haben? Doch bevor man sich der quantitativen Probleme widmet, sollte man erst die Form der Politik der Bestandskontrolle festlegen. Es bestehen viele mögliche Kontrollsysteme. Die gängigsten zählen wir jetzt auf:
  • Order-point, Order-Quantity (s,Q)-Politik: Immer wenn der disponible Bestand auf den Bestellpunkt (reorder-point) s oder tiefer sinkt, wird eine bestimmte Menge, Q, nachbestellt. Der disponible Bestand berücksichtigt den Nettobestand und den Bestellbestand, d.h. die bereits bestellte aber noch nicht vom Lieferanten erhaltene Ware.
  • Order-Point, Order-Up-To-Level (s,S)-Politik: Wie beim (s,Q)-System wird eine bestimmte Menge eines Artikels bestellt, wenn der disponible Bestand auf den Bestellpunkt s oder tiefer sinkt. Doch statt einer konstanten Menge, wird eine Menge bestellt, die ausreicht, um den disponiblen Lagerbestand auf S anzuheben.
  • Periodic-Review, Order-Up-To-Level (R,S)-Politik: Alle R Zeiteinheiten verhält sich dieses System wie das (s,S)-System und erhöht den disponiblen Bestand auf das Niveau S. Diese Politik kommt gewöhnlich bei nicht gänzlich automatisierten Bestellungen zum Einsatz, die vom Einkaufsleiter nach Plan validiert werden.
  • Periodic-Review (R,s,S)-Politik: Diese stellt eine Kombination der (s,S)- und der (R,S)-Politiken dar. In diesem Fall wird der disponible Bestand alle R Zeiteinheiten überprüft. Befindet er sich unter dem Bestellpunkt s, wird eine ausreichende Menge nachbestellt, so dass er auf S angehoben wird. Genauer gesagt, ist das (s,S)-System eine Sonderfall des (R,s,S) wo R=0 ist.

Die Literatur zu Logistikketten bietet ausgiebige theoretische Nachweise - manche gehen sogar auf die 60er Jahre zurück - der Überlegenheit mancher Politiken über andere. Doch aus einer modernen Sicht verlieren diese Nachweise an Bedeutung, da sie den Bestellprozess auf Grundlage äußerst vereinfachter Annahmen gestalten, die die finanziellen Faktoren nicht ausreichend berücksichtigt.

Finanzielle Faktoren im ständigen Wandel

Der klassische Standpunkt der Logistikkette betrachtet jeden Artikel einzeln und verarbeitet ihn isoliert von den anderen. Doch aus Lokads Erfahrung bei der Unterstützung hunderter Unternehmen geht hervor, dass die Betrachtung von isolierten Artikeln in der Praxis nicht sehr sinnvoll ist:
  • Es kommen ständig neue Artikel auf den Markt, während auch konstant ältere Artikel aus dem Markt ausscheiden.
  • Ein Artikel kann auch verschiedene Ersatzartikel unterschiedlicher Qualität haben, von einem perfekten Ersatz bis zu einem nur teilweise funktionierenden Ersatz.
  • Um den Bedarf zu decken, können auch vorrätige Artikelkombinationen nötig sein, was die Auswirkungen des Fehlbestandes eines bestimmten Artikels verschärft, wenn dieser Artikel oft Teil eines Bündels oder Bausatzes ist.
  • Ein neuer kostengünstigerer Lieferanten für einen Artikel kann die Bestandsstrategie deutlich beeinflussen, so dass man einen höheren Bestand hält, mit dem Ziel, den Absatz an ein bestimmtes Segment zu steigern.
  • Ein neuer schneller agierender Lieferanten für einen Artikel kann auch die Priorität der Bestellung dieses Artikels senken im Vergleich zu der von anderen, für die nur langsamere und unzuverlässige Lieferanten vorhanden sind.

Aus praktischer Sicht ist es nicht sinnvoll 1 € mehr für einen Artikel auszugeben, wenn dies zu einem Ertrag von 2 € innerhalb eines Jahres führt, wenn für andere Artikel ein Ertrag von 3 € innerhalb eines Jahres erwartet wird.

Der Bestand gilt nur dann als optimiert, wenn die Kapitallokation für den Bestand das Marktpotential des Unternehmens unter Berücksichtigung aller Bestandsrisiken maximiert. Bei dieser Kapitalallokation konkurrieren alle Artikel ständig miteinander um jede Grenzinvestition. Dabei sollte bei jedem Artikel der erwartete Ertrag und die erwarteten Kosten für die nächste zusätzliche zu bestellende Einheit berücksichtigt werden.

Doch auch die Variablen, nach denen sich die erwarteten Erträge und Kosten richten, befinden sich im ständigen Wandel. Die Beispiele hierfür sind vielfältig: die Kapitalkosten ändern sich mit Liquiditätsbeschaffung und -verlust im Unternehmen; die Bruttogewinnspanne der Artikel variiert mit den Preisänderungen der Wettbewerber, die andere Unternehmen dazu zwingen, ihre Preise anzupassen; der Druck nach Lagerplatz verändert sich im Laufe des Jahres zu verschiedenen Zeiten, wobei die Einschränkungen der festgelegten Lagerkapazität während der Hochsaison im Vergleich zur Nebensaison viel wichtiger ist.

Die priorisierte Bestellpolitik

Wie aus ihrem Namen hervorgeht, bietet die priorisierte Bestellpolitik eine Prioritätenliste der Artikel, die gekauft werden sollen. Jede Zeile ist an eine Mindestbestellmenge für das Produkt gekoppelt. Zur Vereinfachung gehen wir hier davon aus, dass diese Menge 1 Einheit beträgt (für komplexere Fälle können Sie Einschränkungen in Prioritätenlisten lesen). Jeder Artikel taucht in der Liste mehrmals auf, in der Praxis oft nicht hintereinander. Das heißt, dass wen einmal 1 zusätzliche Einheit eines bestimmten Artikels gekauft wird, die nächste rentabelste zusätzliche Einheit unwahrscheinlich denselben Artikel betrifft - obwohl es ab und zu vorkommen kann.

In der Praxis empfehlen wir, die Bestands-Belohnungsfunktion zu nutzen, um den wirtschaftlichen Wert jeder zu kaufenden Einheit festzustellen. Diese Funktion gibt die erwarteten Rendite, falls die Einheit erworben werden würde, (in Dollar oder in Euro) wieder. Die Bestands-Belohnungsfuntkion wird zur Punktwertvergabe für jede Einheit genutzt, die die Priorität festlegt.

Von der Konzeption her ist die Prioritätenliste unbegrenzt: Sie kann bis ins Unendliche gehen, wobei die Rentabilität bei jeder folgenden Zeile etwas geringer als bei der vorangehenden ist. Doch in der Praxis hört die Liste auf, wenn die Rentabilität 0 erreicht, oder wahrscheinlich davor, da eine bestimmte minimale geringfügige Rentabilität gegeben sein muss, um die Fixkosten zu decken. Selbstverständlich ist die Verschwendung von Rechenleistung für äußerst unrentable Szenarien sinnlos.

Aus einer formalen Sicht kann die Einkaufspriorität durch eine Score-Funktion $s(u,k)$ gebildet werden, wobei $u$ eine SKU und $k$ die kx-te zu kaufende Einheit ist. Die Punktwerte sind gewöhnlich bei $k$, also $s(u,k) > s(u,k+1)$, rückläufig, da zusätzlicher Bestand meist zurückgehende Rendite aufweist. Doch in manchen Fällen, kann sich der Punktwert mit $k$ erhöhen (Bsp.: Lehrer kauft Bücher für eine Klasse und benötigt 20 Einheiten). Also ist die Liste aller möglichen Paare $(u,k)$ in absteigender Reihenfolge nach ihrem Punktwert sortiert. Diese sortierte Liste ist dann die eigentliche Prioritätenliste für Einkäufe.

Von der Konzeption her bleiben bei der priorisierten Bestellung zwei Fragen offen:
  • Sie bestimmt nicht, wann die Bestellungen innerhalb der Liste aufhören sollen.
  • Sie bestimmt die Häufigkeit der Überprüfung der Bestellungen nicht.

Im nachfolgenden Abschnitt wird näher auf das Problem, den Schluss der Bestellung festzulegen, eingegangen. Was die Häufigkeit der Überprüfung der Bestellungen in modernen Logistikketten betrifft, kann folgende Antwort gegeben werden: es ist eine tägliche regelmäßige Überprüfung für all die Tage, an denen überprüft werden soll, notwendig. In der Praxis kann die Prioritätenliste komplett automatisch aktualisiert werden, wodurch, wenn dies korrekt durchgeführt wird, eine tägliche Überprüfung der Bestellungen mit unterschwelligen Kosten und nur wenigen Arbeitsminuten, wenn nicht gar weniger im Autopilot-Modus, verbunden ist. Abgesehen davon führen mehrere Überprüfungen täglich, obwohl sie theoretisch möglich sind, zu keiner Reduzierung der durch den Transport von physischen Gütern gewöhnlich entstehenden Verzögerungen.

Kürzen der Prioritätenliste

Wie bereits gesehen, hat die Prioritätenliste, zumindest theoretisch, kein Ende. Doch um eine Bestellung auszuführen, muss die zuständige Person die Liste so kürzen, dass sie eine bestimmte Liste der zu bestellenden Mengen liefert, die zum Zeitpunkt der Bestellung enthalten sein sollen. Zur Kürzung muss ein bestimmtes Kriterium festgelegt werden, nach dem es zu einem Ende kommt. Sehen wir uns die gängigsten an:
  • Up-To-Capital-Level: Es werden Artikel bis zu einem bestimmten Grenzwert des für den Bestand bereitgestellten Kapitals eingekauft, wobei sowohl der aktuelle Bestand als der zusätzliche Bestand, der bestellt werden soll, berücksichtigt werden. Der Vorteil dieses Ansatzes liegt darin, dass er immer mit den Cashflow-Engpässen funktioniert. Nachteilig ist, dass dieser Ansatz keine Information über die Leistung des Grenzwertes liefert.
  • Up-To-ROI-Level: Es werden Artikel gekauft, immer wenn die vollständige Amortisation ROI höher als der Grenzwert ist. Da der ROI entsprechend der Position in der Liste immer geringer wird (höhere Lagerbestände sind an stark zurückgehende Rendite gekoppelt), dient der Grenzwert zur Sicherung der Kürzung der Liste.

Unabhängig davon, welcher Grenzwert in Erwägung gezogen wird, muss eine weitere $g$ Funktion eingeführt werden. Es wird angenommen, dass die $g$ Funktion mit absteigender Reihenfolge in der Liste fällt. Sei $g_\text{min}$ der Grenzwert. Dann sollten wir uns in der Liste nach unten zur $N$-ten Zeile, wie folgt, bewegen: $$N = \text{argmax}_n \{ g(\mathbf{s}_n) \geq g_\text{min} \}$$

Wo $\mathbf{s}_n$ der disponible Bestand nach dem Einkauf aller $n$ ersten Zeilen der Prioritätenliste ist.

Überlegenheit der priorisierten Bestellung

Nur durch empirische Bewertungen kann die Überlegenheit einer Bestandspolitik über andere festgestellt werden. Tatsächlich sind rein theoretische Überlegungen gewöhnlich irreführend. Obwohl es kein Problem ist, dass Annahmen sich bis zu einem gewissen Grad als fälschlich erweisen (z.B. kann der Bedarf in kurzer Sicht als stationär geschätzt werden), ist es schwierig die gesamten Auswirkungen dessen quantitativ festzustellen. Manche Ansätze beweisen eine höhere Realitätsnähe zu den tatsächlichen Bedingungen als andere.

Bei Lokad konnten wir beobachten, dass bei Benutzung einer probabilistischen Prognosetechnologie, d.h. einer Prognosetechnologie, die in der Lage ist die entsprechenden Wahrscheinlichkeiten des gesamten künftigen Bedarfs zu berechnen - statt der Prognose des künftigen mittleren oder durchschnittlichen Bedarfs - Ansätze, die sich auf eine Prioritätenliste für Einkäufe stützten, systematisch zu einer besseren Bestandsleistung führen.

Die Gründe für eine überlegene Leistung sind vielfältig. In Folge zählen wir die positiven Aspekte einer Prioritätenliste für Einkäufe auf, die wir am Häufigsten beobachten konnten:
  • Priorisierung ist besonders resistent gegenüber Verzerrungen. Wird der Bedarf vieler Artikel zu hoch geschätzt, bleiben sie weiterhin priorisiert. Daher hat eine relativ systematische Verzerrung kaum Auswirkungen auf die Bestellung. Eine kleine Verzerrung reicht auch nicht aus, um einen Top-Artikel weit in der Liste nach unten zu verschieben oder umgekehrt einen End-Artikel zur Spitze der Liste zu katapultieren.
  • Priorisierung berücksichtigt auch reibungslos alle Arten von nicht-linearen Bedingung und Einschränkungen, die sich auf mehrere Artikel auswirken. Bei klassischen Bestellpolitiken ist schon die Berücksichtigung von etwas so grundlegendem wie den Lagereinschränkungen in der Bestellpolitik eine Herausforderung. Mit der Priorisierung der Einkäufe ist es schon mit der Kürzung der Liste, wenn das Lager voll ist, getan.
  • Priorisierung ist viel lokaler was den disponiblen Bestand betrifft. Wenn ein Unternehmen seine Bestandsstrategie anpasst, beispielsweise indem es auf höhere Service Level abzielt, entstehen bei klassischen Bestellpolitiken große „Sprünge“ im Bestand, was die Logistikkette durcheinanderbringt. Im Gegensatz dazu bieten Prioritätenlisten für Einkäufe die Möglichkeit, den Übergang so reibungslos wie erwünscht zu gestalten, da hierfür nur die Anpassung des Grenzwertes für die Kürzung nötig ist.
  • Bei der Priorisierung kann man besser mit einer lockeren Planung umgehen. Bestellt ein Unternehmen durchschnittlich alle zwei Wochen einen Container, geht dies bei klassischen Prognosen mit Spannung einher, da das genaue Datum, in dem die zu bestellende Menge den Grenzwert erreicht, und die genau unter der Containerkapazität liegt, beobachtet werden muss. Wird die Containerkapazität überschritten, muss der Einkaufsleiter die überflüssigen Mengen per Hand entfernen, so dass der Container nicht überlastet ist. Im Gegensatz hierzu bietet der Priorisierungsansatz jederzeit den nächsten rentabelsten Container an.

In der Tat konnte Lokad bei jedem Vergleich einer klassischen Bestellpolitik (wie die oben genannten) mit einer priorisierten Bestellpolitik immer feststellen, dass die priorisierte Bestellpolitik so überlegen war, dass ein weiteres Benchmarking beider Methoden sowohl für den Kunden, als auch für Lokad außer Frage standen.

Diese Vergleiche waren auch fair, im Sinne, dass die Prognosetechnologien, auf die sich der klassische Ansatz und der priorisierte Ansatz stützten, von Lokad mit einem ähnlichen Grad an Technologiepräzision entwickelt worden waren - es wäre unfair gewesen, Bestellpolitiken, die von einem fortgeschrittenen Prognose-Engine durchgeführt werden, mit anderen Politiken mit simplen Prognose-Engine, zu vergleichen.

Anmerkungen

(1) Inventory Management and Production Planning and Scheduling, Third Edition, Edward A. Silver, David F. Pyke, Rein Peterson

(2) In manchen Branchen, wie etwa in der Luft- und Raumfahrt, bestehen bestimmte Systeme in der Logistikkette, zur beschleunigten Lieferung für Notanforderung von Ersatzteilen, bei denen jede Minute zählt und die im Volksmund als AOG-Anfragen (Aircraft On Ground) bezeichnet werden. Auch in der Pharmaindustrie gibt es solche „Notsysteme“. Für solche Notsysteme ist es generell nicht empfehlenswert, die Lage aus der Sicht der Bestandsoptimierung zu analysieren, da ein Großteil der Kosten allein aus der Erhaltung des Systems (Nachtschichten und ähnliche Prozesse) entstehen.